Deutscher Bundestag: Mediziner:
Feststellung einer nationalen epidemischen Lage nicht aufheben
°2020-09-10 AiYOt5TfNhk Deutscher_Bundestag-Mediziner-Feststellung_einer_nationalen_epidemischen_Lage_nicht_aufheben.mp4
https://youtu.be/AiYOt5TfNhk + https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw37-pa-gesundheit-corona-709474
Infobox dazu.htm
Mediziner wenden sich gegen eine vorzeitige Aufhebung der vom Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Harald Weinberg (Die Linke) am Mittwoch, 9. September 2020, zu einem Gesetzentwurf und einem Antrag sowie einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen argumentierten die Verbandsvertreter, die Infektionszahlen seien zuletzt wieder gestiegen und rechtfertigten den Ausnahmezustand. Juristen gaben allerdings zu bedenken, dass die mit dem Feststellungsbeschluss einhergehenden Befugnisse für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verfassungsrechtlich bedenklich seien. Die Experten äußerten sich in schriftlichen Stellungnahmen. Weitere Informationen zu dem Thema finden Sie hier: https://www.bundestag.de/dokumente/te...
Mediziner wenden sich gegen eine vorzeitige Aufhebung der vom Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Harald Weinberg (Die Linke) am Mittwoch, 9. September 2020, zu einem Gesetzentwurf (19/20042) und einem Antrag (19/20046) sowie einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (19/20565) argumentierten die Verbandsvertreter, die Infektionszahlen seien zuletzt wieder gestiegen und rechtfertigten den Ausnahmezustand. Juristen gaben allerdings zu bedenken, dass die mit dem Feststellungsbeschluss einhergehenden Befugnisse für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verfassungsrechtlich bedenklich seien. Die Experten äußerten sich in schriftlichen Stellungnahmen.
Epidemische Lage von nationaler Tragweite seit 25. März
Der Bundestag hatte am 25. März 2020 offiziell eine epidemische Lage von
nationaler Tragweite festgestellt. Mit den Änderungen im Infektionsschutzgesetz
gehen weitreichende Befugnisse für das BMG in Form von Rechtsverordnungen und
Anordnungen einher. Das Parlament kann die Feststellung der epidemischen Lage
aufheben, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr vorliegen. Ferner sind die
Ausnahmeregelungen nach Paragraf 55 im Infektionsschutzgesetz bis Ende März
2021 befristet.
Nach Ansicht der Bundesärztekammer (BÄK) besteht die
epidemische Lage fort, sodass die bereits getroffenen Maßnahmen erhalten und
gegebenenfalls neue Maßnahmen getroffen werden müssten. Es sei nicht zielführend,
die Feststellung aufzuheben und gesetzlich zu regeln, welche Maßnahmen dennoch
fortbestehen sollten. Stattdessen sollten die einzelnen Maßnahmen fortlaufend
überprüft und eventuell angepasst werden.
„Nach wie vor große Gefährdung“
Auch die Gesellschaft für Virologie (GfV) will keine
Entwarnung geben. Es bestehe immer noch eine große Gefährdung, zumal sich das
Virus zunehmend in der Fläche verbreite. Wahrscheinlich nähmen die Fallzahlen
mit der kälteren Jahreszeit zu. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei
nach wie vor nicht ausgeschlossen. Auch die Laborkapazitäten und der Öffentliche
Gesundheitsdienst (ÖGD) könnten schnell an ihre Kapazitätsgrenzen kommen.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte, eine
Aufhebung der epidemischen Lage wäre verfrüht. Eine Rückkehr zur
Normalsituation in den Kliniken sei noch nicht möglich. Die zuletzt wieder
steigenden Neuinfektionen gäben Anlass zur Sorge, zumal nun bald die
Grippesaison beginne. Die pandemische Lage könne sich jederzeit schnell ändern,
in dem Fall sollte das BMG die Möglichkeit haben, rasch die nötigen
Entscheidungen in Form von Verordnungen und Anordnungen zu treffen.
Besorgt über steigende Fallzahlen
Der Rechtsexperte Prof. Dr. Thorsten Kingreen von der Universität
Regensburg räumte ein, die zuletzt wieder steigenden Fallzahlen seien
besorgniserregend, gleichwohl könne von einer systemischen Gefahr nicht mehr
gesprochen werden. Die Feststellung der epidemischen Notlage löse zudem ein
verfassungsrechtlich hochgradig problematisches Ausnahmerecht aus. Die Ermächtigung
des BMG, in Rechtsverordnungen Ausnahmen und Abweichungen von nicht näher
eingegrenzten Parlamentsgesetzen vorzusehen, sei verfassungswidrig, erklärte
Kingreen.
Die Blankovollmacht umfasse weit mehr als 1.000 Vorschriften, gab der
Rechtsexperte zu bedenken. Die Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf eine
gesetzlich nicht angeleitete Exekutive schwäche vor allem die Opposition, die
so von der Krisengesetzgebung ausgeschlossen werde. Es werde der fatale Eindruck
eines Ausnahmezustandes erzeugt, der nicht in den üblichen, von der Verfassung
vorgegebenen Formen und Verfahren bewältigt werden könne.
Gesetzentwurf der FDP
Die FDP-Fraktion will die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler
Tragweite durch den Bundestag aufheben, ohne dass zugleich die in der Folge
erlassenen Rechtsverordnungen und Anordnungen außer Kraft treten. Zu den
weiterhin erforderlichen Regelungen zähle etwa die Unterstützung von
medizinischen oder pflegerischen Einrichtungen, heißt es in dem Gesetzentwurf
der Fraktion (19/20042).
Die Regelungen seien außerhalb einer epidemischen Lage vom Parlament zu
treffen. Für ein solches Gesetzgebungsverfahren müsse eine Übergangsregelung
geschaffen werden, mit der die Rechtsverordnungen und Anordnungen bis zum 30.
September 2020 in Kraft blieben.
Die Abgeordneten schlagen vor, den Passus im Gesetz, wonach die
Rechtsverordnungen und Anordnungen mit Aufhebung der epidemischen Lage von
nationaler Tragweite ebenfalls außer Kraft treten, befristet bis zum 30.
September zu streichen. Die Rechtsverordnungen und Anordnungen blieben bis dahin
in Kraft, sofern sie nicht vom Bundesgesundheitsminister aufgehoben würden.
Antrag der FDP
Die Voraussetzungen für die Feststellung einer epidemischen Lage lägen nicht
mehr vor, heißt es auch in einem Antrag der Fraktion (19/20046).
Laut Gesetz hebe der Bundestag die Feststellung der epidemischen Lage von
nationaler Tragweite wieder auf, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr vorlägen.
Daraus ergebe sich die Pflicht des Parlaments, die Voraussetzungen der
Feststellung regelmäßig zu überprüfen.
Die Gefahr einer Destabilisierung des Gesundheitssystems bestehe nicht mehr.
Statt einer dynamischen Entwicklung gebe es ein tendenziell abnehmendes
Infektionsgeschehen. Die Infektionszahlen seien insgesamt drastisch zurückgegangen.
Antrag der Grünen
In der Anhörung ging es auch um einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (19/20565)
mit der Forderung nach einem wissenschaftlichen Pandemierat. Um wirksam und
differenziert auf ein Wiederansteigen der Infektionszahlen reagieren zu können
und die gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Pandemie
gering zu halten, brauche es eine koordinierte interdisziplinäre Strategie, heißt
es in einem Antrag. Mehrere Sachverständige begrüßten die Idee im Grundsatz.
Ein unabhängiger Pandemierat könne die Versachlichung befördern und die
Transparenz der Debatte rund um die getroffenen Maßnahmen stärken,
argumentiert die Fraktion. Der Pandemierat könne dabei helfen, differenzierte
Präventionsstrategien zu entwickeln. (pk/09.09.2020)
Liste der geladenen Sachverständigen
Verbände und Institutionen:
Einzelsachverständige: