Deutscher Bundestag: Mediziner: Feststellung einer natio­nalen epidemischen Lage nicht aufheben
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Mediziner wenden sich gegen eine vorzeitige Aufhebung der vom Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Harald Weinberg (Die Linke) am Mittwoch, 9. September 2020, zu einem Gesetzentwurf und einem Antrag sowie einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen argumentierten die Verbandsvertreter, die Infektionszahlen seien zuletzt wieder gestiegen und rechtfertigten den Ausnahmezustand. Juristen gaben allerdings zu bedenken, dass die mit dem Feststellungsbeschluss einhergehenden Befugnisse für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verfassungsrechtlich bedenklich seien. Die Experten äußerten sich in schriftlichen Stellungnahmen. Weitere Informationen zu dem Thema finden Sie hier: https://www.bundestag.de/dokumente/te...

Mediziner wenden sich gegen eine vorzeitige Aufhebung der vom Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Harald Weinberg (Die Linke) am Mittwoch, 9. September 2020, zu einem Gesetzentwurf (19/20042) und einem Antrag (19/20046) sowie einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (19/20565) argumentierten die Verbandsvertreter, die Infektionszahlen seien zuletzt wieder gestiegen und rechtfertigten den Ausnahmezustand. Juristen gaben allerdings zu bedenken, dass die mit dem Feststellungsbeschluss einhergehenden Befugnisse für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verfassungsrechtlich bedenklich seien. Die Experten äußerten sich in schriftlichen Stellungnahmen.

Epidemische Lage von nationaler Tragweite seit 25. März
Der Bundestag hatte am 25. März 2020 offiziell eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Mit den Änderungen im Infektionsschutzgesetz gehen weitreichende Befugnisse für das BMG in Form von Rechtsverordnungen und Anordnungen einher. Das Parlament kann die Feststellung der epidemischen Lage aufheben, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr vorliegen. Ferner sind die Ausnahmeregelungen nach Paragraf 55 im Infektionsschutzgesetz bis Ende März 2021 befristet.
Nach Ansicht der Bundesärztekammer (BÄK) besteht die epidemische Lage fort, sodass die bereits getroffenen Maßnahmen erhalten und gegebenenfalls neue Maßnahmen getroffen werden müssten. Es sei nicht zielführend, die Feststellung aufzuheben und gesetzlich zu regeln, welche Maßnahmen dennoch fortbestehen sollten. Stattdessen sollten die einzelnen Maßnahmen fortlaufend überprüft und eventuell angepasst werden.

„Nach wie vor große Gefährdung“
Auch die Gesellschaft für Virologie (GfV) will keine Entwarnung geben. Es bestehe immer noch eine große Gefährdung, zumal sich das Virus zunehmend in der Fläche verbreite. Wahrscheinlich nähmen die Fallzahlen mit der kälteren Jahreszeit zu. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei nach wie vor nicht ausgeschlossen. Auch die Laborkapazitäten und der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) könnten schnell an ihre Kapazitätsgrenzen kommen.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte, eine Aufhebung der epidemischen Lage wäre verfrüht. Eine Rückkehr zur Normalsituation in den Kliniken sei noch nicht möglich. Die zuletzt wieder steigenden Neuinfektionen gäben Anlass zur Sorge, zumal nun bald die Grippesaison beginne. Die pandemische Lage könne sich jederzeit schnell ändern, in dem Fall sollte das BMG die Möglichkeit haben, rasch die nötigen Entscheidungen in Form von Verordnungen und Anordnungen zu treffen.

Besorgt über steigende Fallzahlen
Der Rechtsexperte Prof. Dr. Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg räumte ein, die zuletzt wieder steigenden Fallzahlen seien besorgniserregend, gleichwohl könne von einer systemischen Gefahr nicht mehr gesprochen werden. Die Feststellung der epidemischen Notlage löse zudem ein verfassungsrechtlich hochgradig problematisches Ausnahmerecht aus. Die Ermächtigung des BMG, in Rechtsverordnungen Ausnahmen und Abweichungen von nicht näher eingegrenzten Parlamentsgesetzen vorzusehen, sei verfassungswidrig, erklärte Kingreen.
Die Blankovollmacht umfasse weit mehr als 1.000 Vorschriften, gab der Rechtsexperte zu bedenken. Die Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf eine gesetzlich nicht angeleitete Exekutive schwäche vor allem die Opposition, die so von der Krisengesetzgebung ausgeschlossen werde. Es werde der fatale Eindruck eines Ausnahmezustandes erzeugt, der nicht in den üblichen, von der Verfassung vorgegebenen Formen und Verfahren bewältigt werden könne.

Gesetzentwurf der FDP
Die FDP-Fraktion will die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag aufheben, ohne dass zugleich die in der Folge erlassenen Rechtsverordnungen und Anordnungen außer Kraft treten. Zu den weiterhin erforderlichen Regelungen zähle etwa die Unterstützung von medizinischen oder pflegerischen Einrichtungen, heißt es in dem Gesetzentwurf der Fraktion (19/20042).
Die Regelungen seien außerhalb einer epidemischen Lage vom Parlament zu treffen. Für ein solches Gesetzgebungsverfahren müsse eine Übergangsregelung geschaffen werden, mit der die Rechtsverordnungen und Anordnungen bis zum 30. September 2020 in Kraft blieben.
Die Abgeordneten schlagen vor, den Passus im Gesetz, wonach die Rechtsverordnungen und Anordnungen mit Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ebenfalls außer Kraft treten, befristet bis zum 30. September zu streichen. Die Rechtsverordnungen und Anordnungen blieben bis dahin in Kraft, sofern sie nicht vom Bundesgesundheitsminister aufgehoben würden.

Antrag der FDP
Die Voraussetzungen für die Feststellung einer epidemischen Lage lägen nicht mehr vor, heißt es auch in einem Antrag der Fraktion (19/20046).
Laut Gesetz hebe der Bundestag die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder auf, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr vorlägen. Daraus ergebe sich die Pflicht des Parlaments, die Voraussetzungen der Feststellung regelmäßig zu überprüfen.
Die Gefahr einer Destabilisierung des Gesundheitssystems bestehe nicht mehr. Statt einer dynamischen Entwicklung gebe es ein tendenziell abnehmendes Infektionsgeschehen. Die Infektionszahlen seien insgesamt drastisch zurückgegangen.

Antrag der Grünen
In der Anhörung ging es auch um einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (19/20565) mit der Forderung nach einem wissenschaftlichen Pandemierat. Um wirksam und differenziert auf ein Wiederansteigen der Infektionszahlen reagieren zu können und die gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Pandemie gering zu halten, brauche es eine koordinierte interdisziplinäre Strategie, heißt es in einem Antrag. Mehrere Sachverständige begrüßten die Idee im Grundsatz. 
Ein unabhängiger Pandemierat könne die Versachlichung befördern und die Transparenz der Debatte rund um die getroffenen Maßnahmen stärken, argumentiert die Fraktion. Der Pandemierat könne dabei helfen, differenzierte Präventionsstrategien zu entwickeln. (pk/09.09.2020)

Liste der geladenen Sachverständigen
Verbände und Institutionen:

Einzelsachverständige:

 

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